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Prof. Dr. CLAUDIA KUGELMANN

Koedukation im Sporrtunterricht oder: Mädchenund Jungen gemeinsam in Spiel, Sport und Bewegung unterrichten - ein altes Thema neu betrachtet

Inhalt

1. Probleme des koedukativen Sportunterrichts 2. Mädchen heute 3. Jungen heute
4. Unterschiedlichkeit - Ergebnis gesellschaftlicher Bedingungen und individueller Lebenspraxis 5. Geschichte der Koedukation 6. Koedukation ja - aber wie?
  Literatur  

Fall 1: Fußballspielen (6. Klasse Gymnasium, Erweiterter Basissportunterricht, 6 Mädchen, 10 Jungen)

Aufwärmen: verschiedene Formen zur Ballgewöhnung. Ein Schüler demonstriert auf Anweisung des Lehrers die nächste Übung: Slalomlauf mit Ball durch "lebende" Slalomstangen.

L.: "Gerd, du bist ja ein Talent!"

Die Schülerinnen und Schüler sollen die Übung einzeln nachmachen. Zwei Jungen beginnen. L.: "So, jetzt kommen die Profis. Gut, ja ganz gut!"

Ein Mädchen läuft durch den Parcours. L.: "Nicht mit dem Zeh hinhauen, die Innenseite nehmen!" Nach einer weiteren Übungsform. L.: "Stopp einmal. Vor allem die Mädchen, die Jungs beherrschen das schon gut."

Eine Art "Tigerball"-Spiel wird in einem Jungen- und einem Mädchenkreis gespielt. Der Lehrer, der zuerst bei den Mädchen mitgespielt hat, geht zu den Jungen und sagt:

"So, bei den Buben machen wir jetzt eine Erschwernis." Zu den Mädchen gewandt:

"Macht ihr noch so weiter. Das ist für euch zu schwer" Während der Lehrer bei den Jungen bleibt, wird das Mädchenspiel immer lustloser. Manchmal wird der Ball absichtlich aus dem Kreis hinausgeschossen, so dass er immer wieder geholt werden muß. Geteilte Meinungen werden laut: "Das ist doch kein Sport." "Ich möchte jetzt richtig Fußball spielen."

Der Lehrer ruft die Klasse zusammen. Für das abschließende Spiel sollen zwei Mannschaften gebildet werden.

L.: "So, die Mädchen nehmen wir einfach mit rein. Drei Mädchen auf jeder Seite, dann die Jungs. Zu den Jungen gewandt: "Wer von euch spielt im Verein?" Zwei melden sich. L.: "Ihr dürft wählen - aber erst die ganzen Mädchen aufteilen!".

Fall 2: Wir spielen Ball über die Schnur (2. Klasse)

Zum Ende der Sportstunde, nach Aufwärmen, Gymnastik, Ballübungen zu zweit, soll noch ein "richtiges" Spiel stattfinden: Ball über die Schnur. Die Kinder wissen schon von früheren Stunden, wie das geht. Eine Zauberschnur wird quer durch die Halle gespannt und teilt damit zwei Spielfeldhälften voneinander ab. Während die Lehrerin damit beschäftigt ist, folgen ihr einige Kinder mit lautem Rufen: "Darf ich wählen?" "Nein, ich will mal wählen." "Heute wählen wir nicht, das kostet zuviel Zeit," sagt die Lehrerin. "Wir spielen einfach Mädchen gegen Jungen." Triumphgeheul von den Jungen, leises Murren von den Mädchen ist die Antwort, Trotzdem haben sich die Kinder schnell verteilt.

Doch nun taucht ein Problem auf: Es sind drei Jungen mehr als Mädchen. "Das ist ungerecht," rufen die Mädchen. "Da müssen eben einer oder zwei von euch rüber," sagt die Lehrerin zu den Jungen. "Wer geht freiwillig?" "Zu den Weibern geh ich nicht," ruft einer laut. "Ich auch nicht. Ich bin doch nicht blöd." So oder ähnlich geht das Gebrüll durcheinander Die Mädchen halten sich still, warten ab.

"Dann muss ich halt selbst jemand bestimmen," verkündet die Lehrerin. "Peter geh du rüber!" Die Jungen lachen lauthals: "Der Peter ist verliebt. der Peter hat ne Freundin" Peter läuft rot an, schüttelt langsam den Kopf, bleibt wie angewurzelt stehen. Nun wird die Lehrerin doch etwas ungeduldig. "Ziert euch doch nicht so. Was ist denn schon dabei, wenn einer von euch bei den Mädchen spielt. Wenn ihr solange braucht, bis ihr zwei gleiche Mannschaften zustande bringt, dann geht das von eurer Spielzeit ab. Gibts denn keinen, der mit dem Peter rübergeht? Dann ist er nicht so allein. Martin, was ist? Willst nicht du dich opfern?"

Martin gibt sich Einen Ruck. Er fasst Peter an der Schulter, "Komm", sagt en Endlich kann das Spiel beginnen.

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1. Probleme des koedukativen Sportunterrichts

Koedukation im Sportunterricht - es gibt kaum ein sportpädagogisches Thema, das seit so langer Zeit derart kontrovers diskutiert wird. Andere fachliche Grundsatz-themen, "Leistung im Sportunterricht" zum Beispiel, oder "Motivation" sind längst ausgetragen, Für und Wider genannt, ein akzeptabler Standpunkt gefunden. Das Problem "Koedukation" dagegen war schon mehrmals totgesagt und taucht trotzdem gerade jetzt wieder - neu und ungelöst - in der öffentlichen Diskussion auf.

Nach flammenden Plädoyers für die Koedukation in der Zeit der Reformpädagogik und der ersten Frauenbewegung vor knapp 60 Jahren, nach fast 30 Jahren kontroversen Meinungsaustausches über diese Unterrichtsform in neuerer Zeit, und ebensovielen Jahren Erfahrung mit koedukativem Unterricht in allen Bundesländern, ist es auf den ersten Blick verwunderlich, dass wir immer noch nicht die eine, allgemein anerkannte Auffassung darüber gewonnen haben. "Zurück zur Mädchenschule?", "Macker und Mieze schon im Klassenzimmer", "Lernen Mädchen besser ohne Buben?" oder "Sport, nach Geschlechtern getrennt: eine Chance für Jungen?" - solche Fragen der Gegner finden sich in der Fresse und aktuellen Fachliteratur ebenso, wie die Aussagen der Befürworter "Koedukation als Gestaltungsprinzip von Bildung", oder das Zitat eines Mädchens "Mit Jungen ist einfach mehr Power drin!".

Die Einführung koedukativer Schulen im Zuge der Bildungsreform in den 60-er Jahren entsprach dem Ziel, "dem politischen Willen nach einem gleichberechtigten Zusammenleben der Geschlechter näherzukommen... Die Koedukation hat entscheidend dazu beigetragen, das Bildungsdefizit der Mädchen zu beheben. Gehörten Mädchen früher zu den bildungsbenachteiligten Gruppen, so ist heute die

quantitative Benachteiligung abgebaut. Mädchen haben beim Erwerb weiterführender Bildungsabschlüsse aufgeholt... Sie erlangen in der Regel die besseren Noten, stellen den weitaus kleineren Teil der lernauffälligen Schüler und haben eine wesentlich geringere Sitzenbleiberquote." So positiv denkt die Bildungskommission in Nordrhein-Westfalen (1995, 126, 127). Warum ist trotz dieser optimistischen Einschätzung der Koedukation die Diskussion über den koedukativen Sportunterricht nie abgerissen (und in einigen anderen, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern) wieder neu aufgebrochen? Anscheinend gibt es Probleme zwischen den Geschlechtern gerade in diesen Bereichen, die allein mit politischer Willensbekundung nicht zu beheben sind.

Die oben beschriebenen Szenen aus dem Alltag des "koedukativen" Sportunterrichts, haben zwei gemeinsame Aspekte: die Schüler und Schülerinnen geraten wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit in Konflikt zueinander und die Lehrkraft fährt Regie, indem sie den Ablauf des Geschehens selbst veranlasst oder zumindest hinnimmt. Es liegt auf der Hand, dass dies keine vorbildlichen Beispiele für koedukativen Sportunterricht sein können, der doch dem Anspruch unterliegt, Mädchen und Jungen gleich zu behandeln und die Gleichberechtigung der Geschlechter anzustreben. Doch solche und ähnliche Ereignisse werden immer wieder berichtet: -Jungen trumpfen auf, Mädchen lassen sich von ihnen dominieren und herabsetzen, selten nur wehren sie sich dagegen, Lehrkräfte schauen verständnislos, hilflos oder desinteressiert zu, ja manche Lehrerinnen erscheinen selbst als Opfer männlicher Aggression (vgl. dazu FIRLEY-LORENZ 1995, 4). Sind "Macker" und "Miezen" also tatsächlich an der Tagesordnung im geschlechtsheterogenen Sportunterricht? Bedeutet die von den Mädchen bewunderte "Power" der Jungen eher einen Nachteil für sie? Sollten beide Geschlechter nicht besser unter sich bleiben?

Andererseits, wenn wir Mädchen und Jungen in ihrem Alltagsleben beobachten, in ihrer Freizeit, in der Familie, in der Öffentlichkeit, scheint häufig zwischen ihnen kein besonderer Unterschied mehr zu sein: auf der Schaukel, auf dem Fahrrad, auch auf Inline-Skates schauen sie ziemlich ähnlich aus, Jeans, Oversized-Pullis, T-Shtrts und -Westen, karierte Holzfällerhemden, Mützen mit dem Schild nach vorn oder hinten, Sportschuhe oder Gummistiefel, bei Bedarf Knieschützer und Helm - ihr Gerät und Outfit sind gleichermaßen funktional wie modisch, aber häufig uni-sex.

Wenn sich Mädchen und Jungen nicht in institutionalisierten, festen Gruppen sondern zu zweit oder zu wenigen begegnen, treten die aus der Schule und dem Schulsport berichteten Animositäten wesentlich seltener auf. Gemischte Geburtstagsparties, gemeinsame Schwimmbadbesuche, Verabredungen am Nachmittag unter Nachbarskindern sind nicht ungewöhnlich. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verringern sich in vielen Bereichen. So unrecht hat der Freiburger Kulturwissenschaftler G. Kaiser offensichtlich nicht, wenn er meint: "Obwohl die Vorstellungen davon, was männlich und was weiblich ist, oft ungebrochen weitergelten, kann kein Zweifel daran bestehen ... , dass wir Zeitgenossen ihrer Auflösung sind und dass dieser Zerfall sein historisches Recht und eine gesellschaftliche Notwendigkeit hat." (Spiegel 11/1998, 118)

In diesem Spannungsfeld zwischen der zukunftsweisenden Veränderung der Geschlechterverhältnisse und der Beharrung auf tradierten Werten müssen die Heranwachsenden heute im Prozess ihrer Ich-Findung Orientierung suchen. In einer Zeit, in der die gesellschaftliche Entwicklung und die Veränderung von Normen derart schnell fortschreitet wie in der unsrigen, wo nichts mehr so sicher ist, wie es früher schien - Familie, Kirche, Arbeitsplatz, soziale Rollen, entstehen zwar Freiheiten, Offenheit und neue Chancen. Die Buntheit gegenwärtiger Jugendkultur, der Trend zur Androgynität in der Mode sind Zeichen dafür.

Gleichzeitig aber erwächst aus dem schnellen Wandel auch Unsicherheit, die "Lükken in die fragile Architektur jugendlicher Identität" reißen kann (JANSEN 1997, 81). Die Suche nach Halt in einer Situation, in der alles wegzurutschen droht, führt zwangsläufig zu tradierten Werten und Verhaltensweisen. Darum spiegelt die klare Einteilung der Welt in "männlich" und "weiblich", als bewährte Geschlechterordnung, Verlässlichkeit vor. Es wird verständlich, dass für junge Menschen der Aufbau einer eindeutigen Geschlechtsidentität eine zentrale Aufgabe der Persönlichkeitsentwicklung darstellt. In den Feldern von Leiblichkeit und Sich-Bewegen ist die Entwicklung eines "Habitus" im Sinne BOURDIEUS (1981) besonders effektiv; auch dessen Einschätzung durch andere bezieht sich vor allem auf die leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten: wie sich jemand Meidet, sich bewegt, sich in der Öffentlichkeit benimmt (Necken, Ärgern, Raufen, Schlagen, vgl. dazu OSWALD u. a. m PFISTER (Hrsg.) 1988), welche Sportarten man bevorzugt und welche Rolle dabei spielt - all das ist Ausdruck des Ich. Viele versuchen noch mehr Selbstsicherheit zu gewinnen, indem sie sich in dem einen oder anderen Bereich als Mädchen oder Junge akzentuieren, sich abgrenzen vom anderen Geschlecht. Die Konflikte zwischen den Geschlechtern im Sportunterricht können demnach als verständliches Ergebnis schwieriger Entwicklungsprozesse interpretiert werden.

Gesellschaftliche Kräfte, wie z.B. die Medien, die Mode, die Wirtschaft, in gewisser Hinsicht auch die Schule unterstützen die Bemühungen der Jugendlichen, es sich im Schutz bestehender Ordnungen bequem zu machen (vgl. dazu KUGELMANN 1996, Kap. l und 2). Geschlecht und Geschlechterordnung werden so als soziale Konstruktionen begreifbar, denen das Individuum unterworfen, aber an denen es auch selbst handelnd beteiligt ist. Die folgenden Skizzen zur Lebens-, Bewegungs- und Sponwelt der Mädchen und Jungen verdeutlichen diesen Sachverhalt.

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2. Mädchen heute

Schon bald entwickeln viele Mädchen ihre besonderen Interessen. Ihre Spiele haben eher sozialen als Wettkampf-Charakter, sie sind weniger auf öffentlichen

Plätzen zu finden. Sie gleiten zwar auch auf zwei mal vier Rollen, aber wenn die Jungen an Geländern entlang-grinden oder Roll-Hockey spielen, sucht man Mädchen meist vergebens. Mädchen von heute haben das rosa Mädchenrad früherer Generationen gegen ein pink-schwarzes Mixte-Rad mit 21 Gängen eingetauscht. Doch die Entscheidung für diese Schaltung haben zumeist nicht sie selbst getroffen, sondern ihre technikinformierten Väter oder Brüder. Sie fahren damit zur Schule, zum Ballett, zur Klavierstunde, zum Sonntagsausflug mit den Eltern - meist ohne groß zu schalten. Sie stromern jedoch nicht, wie viele Jungen, allein und einfach so durch schwieriges und dreckiges Gelände (vgl. dazu NISSEN u. a. 1992). Wenn es allerdings um die Gestaltung von Sprüngen beim Gummitwist geht, um Rollenspiele und Kunststücke an den Turngeräten des Spielplatzes - da sind vor allem Mädchen zu finden.

Einige Verkrustungen von gestern im Bewegungsleben von Jungen und Mädchen haben sich aufgelöst, mehr Mädchen als früher spielen Fußball oder Volleyball im Verein, probieren die neuen Sportgeräte aus, kleiden sich frech und burschikos. Aber immer noch überlassen viele von ihnen gewisse Bewegungsräume und -gelegenheiten den Jungen. Immer noch verabschiedet sich eine große Zahl von ihnen mit der Pubertät von Bewegung, Spiel und Sport: Nach einer Umfrage in NRW, deren Ergebnisse auch für Bayern ähnlich sein dürften, sind es vor allem die Mädchen, die nach dem 12. Lebensjahr den Verein verlassen (KURZ 1995). Nach wie vor sind die Schönheit, die Schlankheit, die sexuelle Anziehungskraft Hauptthemen der weiblichen Lebensgestaltung. Der Wunsch, den Körper nach den geltenden Weiblichkeitsklischees zu modellieren beherrscht auch gegenwärtig das Bewegungs- und Sportleben der Mädchen. Ihnen entgeht durch diese Selbstbescheidung eine Menge neuer Bewegungs- und Lebenserfahrungen.

Öffentlich präsentierte Vorbilder gelungener Weiblichkeit sind Frauen, die gängige Weiblickkeitsideale verkörpern, z.B. Pamela Andersen, Claudia Schiffer, Nina Hoss. Die Mädchen selber scheinen sich vom frühen Kindesalter an immer wieder neu von jenen Weiblichkeitsklischees angezogen zu fühlen. Ein Zeichen und Symbol dieser Tendenz ist die unverminderte Attraktivität der Barbie-Puppe mit langen schlanken Reinen, großem Busen und langen blonden Haaren. Seit fast vierzlg Jahren steht sie bei Mädchen zumindest im Grundschulalter auf dem Wunschzettel - auch wenn sich manche Mütter deshalb die eigenen Haare raufen. Der neueste Renner ist "Barbie-Schönheits-Salon" zum virtuellen Frisieren, Ankleiden und Schminken auf CD-Rom "mit eigenem Drucker" - so die Werbung.

Mädchen sind also nicht nur Opfer, sondern auch aktive Mitgestalterinnen ihrer weiblichen Sozialisation.

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3. Jungen heute

Auf der anderen Seite ist nach wie vor die Auffassung verbreitet, zu einem "richtigen" Jungen gehöre zum Beispiel, stark zu sein, Schmerzen klaglos zu ertragen, die Gefahr zu suchen und weder Angst noch andere Gefühle zu zeigen. Spektakuläre Skate-Board-, Bike- und Inline-Skate-Kunststücke auf Asphalt, Treppen oder in Halfpipes sind Phänomene einer männlich geprägten Jugendkultur. Die meisten Ballsportarten werden hauptsächlich von männlichen Heranwachsenden betrieben

- Eishockey, Streetball, Football, Fußball - und die Spieler gehen dabei gewöhnlich hart zur Sache. Wer ein rechter Junge sein will, liebt zum Beispiel nicht nur das Fußballspielen an sich, sondern hat auch die Motivation, dies erfolgreich zu tun. Er will Tore schießen, sich durchsetzen in der eigenen Mannschaft und gegen die Gegner Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, wenn im Verein versteckte Fouls trainiert werden, wenn von den Medien vor allem die spektakulären Torszenen hervorgehoben werden. Hart sein ist männlich, diese Idealvorstellung vermitteln Identifikationsfiguren wie Sylvester Stallone, Arnold Schwarzenegger oder Lothar Matthäus.

Aber auch Jungen, die eher musisch, emotional, weicher sind, die eine harte Konfrontation im Sport und das Wagnis eher meiden, gibt es genug. Nur haben sie oft Schwierigkeiten, in ihrer Peer-group Anerkennung zu finden, finden nicht so leicht Vorbilder, an denen sie sich orientieren könnten.

Selbstverständlich ist auch in bezug auf männliche Geschlechterklischees vieles in Bewegung geraten. Die Diskussion um den "Neuen Mann" vor wenigen Jahren zeigte, dass herkömmliche Männlichkeitsbilder fragwürdig geworden sind. Die Bekleidungs-, Sport- und Parfümreklame präsentierte uns Bilder von androgynen Männerkörpern, von schönen, weicheren Männergesichtern, von einer Lust an Farben und Formen, die früher nur bei den Frauen anzutreffen war. Seit eüiiger Zeit ist es auch für Jungen zunehmend wichtig, schön und schlank zu sein - die wachsende Zahl von männlichen Magersüchtigen und Bulimikern ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass diese Tendenz zur Androgynität neuerdings wieder abgelöst wird von einem männlich-markantem, machohaftem Habitus - der Drang zur "klaren" männlichen Identität korrespondiert mit der zunehmenden Verunsicherung durch aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, im Sozialbereich, in der Politik.

Besonders im Kindes- und Jugendalter scheinen nach wie vor die eindeutigen Männlichkeitsbilder mehr Anziehungskraft zu besitzen. "Egal ob auf dem Schulhof oder im Jungentreff: Der coole Macker gibt den Ton an. Anerkennung kann nur erreichen, wer den gängigen Männlichkeitsidealen entspricht, und das heißt: keine Schwächen zeigen, gegenüber Mädchen den Überlegenen markieren und ruhig mal ein bisschen rücksichtslos sein, den Mädchen auf dem Schulhof die Röcke hochheben oder den BH-Träger schnallen lassen - an den Spielchen mit denen männliche Macht unter Beweis gestellt wird, hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert ... Mädchen-ärgern wird zum Sport, Grapschen zur Mutprobe." (PETZ, 1996, 66)

Auch Jungen sind nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt ihrer (männiichen) Sozialisation.

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4. Unterschiedlichkeit - Ergebnis gesellschaftlicher Bedingungen und individueller Lebenspraxis

Der Einfluss traditionalistischer gesellschaftlicher Kräfte ist gerade im Bereich der geschlechtspezifischen Sozialisation jedoch nach wie vor stark. Die Ergebnisse neuerer empirischer Sozialforschungen zu Bewegungs- und Spielräumen von Kindern (vgl. NISSEN 1992, 138) zeigen, dass Mädchen in einigen Bereichen deutlich unterrepräsentiert und damit potentiell in der Entwicklung ihrer Möglichkeiten gegenüber Jungen benachteiligt sind.

4.1 Beispiel "öffentliche Räume"

Es gibt zum Beispiel deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich der Raumnutzung: Öffentliche Freiräume "werden in jeder Region, auf jeder Altersstufe und innerhalb jeder Schicht beträchtlich mehr von Jungen als von Mädchen genutzt." (a. a. O. 146) In der Stadt beträgt das Verhältnis 35% (Jungen) zu 22% (Mädchen), in Landgemeinden 25% zu 14%. Nissen erklärt dieses Verhalten aufgrund ihrer Untersuchungsergebnisse zum einen mit der Tatsache, dass Mädchen "immer noch deutlich mehr Hausarbeit machen als die Jungen: 43% der Mädchen, aber nur 27% der Jungen gaben an, täglich bis einmal in der Woche Hausarbeiten machen zu müssen" (a. a. O. 146). Zum andern wird Mädchen der Aufenthalt an bestimmten Orten des öffentlichen Freiraums weit häufiger als den Jungen verboten.

Der Grund dafür ist - wie bereits für die Tendenz, Mädchen mehr als Jungen im Auto zu transportieren - auch hier die Angst der Eltern vor sexueller Gewalt an ihren Töchtern. So äußerten sich fast doppelt so viele Eltern von Mädchen (40%) wie von Jungen (22%), unabhängig von sozialer Schicht, Region und Alter der Kinder. Auch Mädchen selbst nannten fast doppelt so oft als Jungen Angst als Erklärung dafür, dass sie nicht in Wald oder Park spielen wollten (vgl. NISSEN 1992, 147). Angesichts der neuesten Fälle von Verschleppung, Vergewaltigung und Mord in Deutschland und anderen europäischen Ländern und der damit verbundenen öffentlichen Diskussion über die Gefährdung von Mädchen in der Öffentlichkeit dürfte diese Angst und damit die Bindung der Mädchen ans Haus noch zunehmen.

Bei schichtspezifischer Betrachtung sind Mädchen der oberen Mittelschicht am wenigsten, Jungen der unteren Mittelschicht am häufigsten auf "der Straße" anzutreffen.

4.2 Individuelle Unterschiede

Kinder reagieren aber, wie wir gesehen haben, nicht nur auf gesellschaftliche Bedingungen, sie interpretieren selbst aus subjektiver Sicht die in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen enthaltenen Möglichkeiten - sie sind in der Lage, ihr Leben in gewissen Grenzen selbst zu gestalten. (HURRELMANN 1983; NISSEN 1992, 138). Allerdings spielen dabei - so BOURDIEU - soziale Gegebenheiten, der lebensweltliche Kontext, in den ein Kind hineingeboren wird, eine entscheidende Rolle - z.B. Klassen- und Schichtzugehörigkeit, finanzielle Ressourcen und Bildungschancen, regionale und kulturelle Gegebenheiten, traditionelle Verbote und Gebote oder eher moderne Freiräume. Von diesen Bedingungen hängt es ab, ob der Einfluß durch die Sozialisation eher schaffe Geschlechterabgrenzungen verursacht oder eher die Grenzen überschneidet. Von den sozialen Umständen hängt es auch ab, in welchem Ausschnitt aus dem Universum der Praxis ein Heranwachsender individuelle Spielräume wahrnehmen kann oder nicht (vgl. dazu LIEBAU 1992, 139f.). Dazu sei noch einmal auf das Beispiel der Mithilfe im Haushalt verwiesen: Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen bezüglich der Hausarbeit gibt es in allen Bevölkerungskreisen, gar nicht zu helfen ist jedoch für Jungen aus der Unterschicht und mit Hauptschulniveau üblich; 50% der 15-17jährigen Mädchen aus Familien mit ganztags erwerbstätigen Müttern arbeiten bis zu 4 Stunden pro Woche im Haushalt (vgl. dazu TILLMANN 1992, 44) - die Konsequenzen dieser Sachverhalte für die geschlechtsspezifische Sozialisation gerade in bezug auf Freizeit und Sport liegen auf der Hand.

Durch das dialektische Spannungsverhältnis zwischen personaler Welt des Kindes und öffentlicher Welt gibt es zwar unterschiedlich große, aber immerhin vorhandene Spielräume für die Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse, die zwischen Anpassung an Gepflogenheiten und zukunftsweisendem Wandel vielfältig variieren können. Sie verursachen die Konflikte, die den koedukativen Sportunterricht häufig so schwierig machen, sie enthalten aber auch Chancen, die Ideen der Koedukation zu verwirklichen.

4.3 Koedukativer Sportunterricht - eine Chance für Gleichberechtigung der Geschlechter?

Trotz der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Sozialisation, aber auch wegen ihnen gilt die Forderung nach "Koedukation als Gestaltungsprinzip von Bildung" als unumstritten. Das Konzept der Koedukation zielt darauf hin, die Unterschiede ohne alle Gleichmacherei dort zu beheben, wo sie den jungen Menschen zum Nachteil geraten, die Defizite der jeweiligen Geschlechtsrollenkultur auszugleichen und Verständnis zu schaffen für das andere Geschlecht. Geschlechtergrenzen sollen nicht der Abschottung dienen, sondern zur Überschreitung einladen. In der Denkschrift der Bildungskommission NRW "Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft" (1995, 126ff.) wird zwar festgestellt, dass Geschlechterstereotype weiterhin den Schulalltag bestimmen, dass sie immer noch die Gleichwertigkeit von Mädchen und Jungen und damit das persönliche Gleichgewicht der Kinder verhindern. Gerade deshalb soll "Koedukation" in allen Fächern, auch im Sportunterricht der Regelfall bleiben: "Koedukative Schulen gehören zur Selbstverständlichkeit der Bildungslandschaft. Die positiven Wirkungen der Koedukation als einer der wichtigsten bildungspolitischen Maßnahmen zur Umsetzung des im Grundgesetz festgelegten Gleicheitsgebots sind unbestritten" (Bildungskommission NRW 1995, 127).

Dies gilt grundsätzlich für alle Fächer, auch wenn in den naturwissenschaftlichen in dieser Beziehung in letzter Zeit Zweifel auftauchen (vgl. SZ vom 27.2.98).

Was jedoch den Sportunterricht betrifft, so ist in der Fachliteratur nach wie vor unentschieden, ob die geschlechtshomogene oder -heterogene Form des (Sport-)unterrichts die wünschenswerte ist, um gleiche Bildungschancen für beide Geschlechter zu gewährleisten. In einigen Bundesländern wird der Sportunterricht nur in den ersten vier Schuljahren geschlechtsheterogen organisiert, später ist diese Unterrichtsform auf einige wenige Sportarten im Differenzierten Sportunterricht beschränkt. Der offizielle Grund dafür ist, unsittliche Körperkontakte zwischen Kindern und zwischen Mädchen und Lehrern beim Sporttreiben zu vermeiden. In Wirklichkeit ist die Trennung der Mädchen und Jungen jedoch vermutlich das Ergebnis der tendentiell eher traditionellen Kultur und Lebensstile, die auf der traditionellen Geschlechterordnung beruhen, sie hervorbringen und aufrechterhalten. Ein Indiz für diese These sehe ich z.B. darin, dass noch im neuesten Lehrplan Sport für das Bayerische Gymnasium (1992) teilweise unterschiedliche Inhalte für Mädchen und Jungen ausgewiesen sind: Im Umgang mit Ball und Seil, Reifen und Band sollen Jungen die Kondition und Geschicklichkeit verbessern und "Kunststücke" machen, Mädchen auch "Übungsverbindungen" zeigen (S. 770 ff.); auch bei den Sportspielen (S. 777) und beim Turnen (S. 782) werden Unterschiede gemacht. Die Trennung ab der 5. Klasse ist im Gegensatz zu den anderen Bundesländern zum Regelfall geworden. Schreckensmeldungen über die Schwierigkeiten mit gemischten Klassen andernorts halten die Sportlehrerinnen und -lehrer davon ab, Änderung zu fordern.

Obwohl es sicher zahlreiche mit der gemeinsamen Unterrichtsform zufriedene Kinder und Lehrkräfte gibt (vgl. dazu Untersuchungen von Gieß-Stüber 1993 und Scheffel 1996), enthält unbestritten nach wie vor der geschlechtsheterogene (Sport-) Unterricht spannungsgeladene Substanz. Konflikte zwischen Mädchen und Jungen sind scheinbar an vielen Orten an der Tagesordnung, verallgemeinerbare Rezepte für geglückte Lösungen liegen nicht vor.

Warum klare Antworten auf die Fragen, die die koedukative Unterrichtsform aufwirft, nicht so leicht zu geben sind, kann aus der Geschichte der Koedukationsdebatte zumindest zum Teil erschlossen werden. Sie zeigt, dass die Standpunkte, die zu dieser Unterrichtsform im Laufe der Zeit vertreten wurden, immer auch Ausdruck des Zeitgeistes, der jeweils aktuellen Auffassung über die Geschlechterverhältnisse, der Bildungspolitik, der Körper- und Sportpolitik waren.

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5. Geschichte der Koedukation

Eine Analyse des historischen Wandels der Argumentation zur Koedukation im Sportunterricht kann somit den heutigen Stand der Debatte erklären und gleichzeitig zum Ausgangspunkt für neue Antworten auf die Koedukationsfrage sein.

Ich werde im Folgenden also die Entwicklung der Koedukationsdebatte in bezug auf den Sportunterricht skizzieren. Dabei werden die positiven Anregungen der Koedukationsdiskussion und -praxis für unser Fach aus heutiger Sicht beschrieben und die jeweils verbliebenen ungelösten Probleme genannt.

5.1 Eine "heile Welt" wird gestört

Die ersten Anstöße für die Veränderung der Konzeption eines nach Geschlechtern getrennten Schulsportunterrichts erfolgten in der Mitte der 70er-Jahre. FUNKE (1974) kritisierte die geschlechtsspezifische Sozialisation im Schulsport, BREHM (1975) den "Sport als Sozialisationsinstanz traditioneller Geschlechtsrollen". ENGEL / KÜPPER, PETERSEN, BUCHBINDER / BUCHBINDER veröffentlichten Unterrichtsversuche zum gemeinsamen Sportunterricht von Jungen und Mädchen zur selben Zeit. Kröner kam mit ihrer Untersuchung zu "Sport und Geschlecht" 1976 heraus. Ihrer Argumentation, dass Mädchen, die zum Mädchensportunterricht gezwungen werden, gegenüber Jungen in ihren Entwicklungsmöglichkeiten benachteiligt sind, folgten BRODTMANN / JOST ("Materialien zum Seminarthema Koedukation im Sportunterricht" 1977), FUNKE / HEINE / SCHMERBITZ von der Bielefelder Laborschule (1979) und KUGELMANN (1980). Auch PFISTER / LANGENFELD (1980) zweifelten daran, dass die "Leibesübungen für das weibliche Geschlecht" ein Mittel für die "Emanzipation der Frau" gewesen seien.

Sie alle suchten Wege, um die Idee der Gleichbehandlung und Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen zu verwirklichen. Sie konnten nicht akzeptieren, dass die Idee der Koedukation auf die wissenschaftlichen Fächer beschränkt bleiben sollte. Gerade bei Sport, Spiel und Bewegung könnten sich doch die Geschlechter in unverfänglicher Weise auch leiblich begegnen und kennenlernen. So schien die Chance größer, Vorurteile und Geschlechtsstereotypien zu überwinden. Die schulische Realität, in die solche Experimente einbrachen, war zu dieser Zeit dadurch charakterisiert, dass Jungen und Mädchen ganz selbstverständlich je spezifische Inhalte, Ziele, Räume, Anforderungen im Fach "Leibeserziehung" zugewiesen wurden. Theorie und Praxis der Leibeserziehung wirkten verstärkend auf die traditionellen Geschlechterrollen ein.

In diesen beschaulichen Schulsportalltag brachen nun auf einmal die neuen Ideen ein. Der Gedanke der Emanzipation von Rollenklischees auch im Sportunterricht sollte Wirklichkeit werden, um "das ungleiche und die Frau weitgehend benachteiligende Verhältnis der Geschlechter zu regeln" (JOST 1977, 2f.) und geschlechtsspezifische Vorurteile im Feld des Sports auszuräumen. Vom "Aufbrechen" der tradierten Geschlechterrollen war mehrfach die Rede.

Besonders die sportlichen Defizite der Mädchen und Jungen sollten durch Unterweisung in Bewegungsangeboten, die für das jeweils andere Geschlecht typisch sind, ausgeglichen werden. Mädchen sollten mehr Sportspiele, vor allem das Fußballspiel kennenlernen. Die Jungen sollten merken, dass sie im Seilchenhüpfen und im Tanz den Mädchen weit unterlegen waren und Aufholbedarf zugeben mussten. Vor allem aber war geplant, dass Jungen und Mädchen allmählich und langfristig das Sporttreiben in gemischten Gruppen für selbstverständlich halten sollten.

Im Rückblick erscheinen die Ergebnisse dieser Versuche insgesamt eher mager zu sein:

Erfreulich ist zwar, dass die soziale Komponente von Sportunterricht stärker als zuvor ins Blickfeld geraten ist. Die Regelung der sozialen Beziehungen zwischen den Beteiligten wird als unverzichtbare Voraussetzung für das Gelingen von gemeinsamen bewegungsbezogenen Unternehmungen erkannt. Soziales Lernen erhält durchwegs höheren Stellenwert als die Verbesserung der sportlichen Leistung.

Das Ziel des gemeinsamen sportlichen Handelns in und außerhalb der Schule wurde langfristig nicht erreicht - die Bildung gemischter Gruppen wurde ebensowenig selbstverständlich wie die gleichberechtigte Einbeziehung der Mädchen ins Sportspiel. Seilspringen war und blieb eben "Weiberkram", während Fußball "richtiger" Sport und damit Männersache war, bei dem "die Weiber" nichts verloren haben.

Diese ersten Unterrichtsversuche haben das Problem des Koedukationsgedankens verdeutlicht, konnten es jedoch nicht lösen. Ein Grund für diesen Misserfolg ist sicher in den schwierigen Praxisbedingungen zu suchen - große Klassen, zu wenige Sportstunden, wenig Möglichkeiten zum fächerübergreifenden Unterricht.

5.2 Die Theorie schreitet vor - die Praxis bleibt zurück

Die gesellschaftspolitische Entwicklung in der Bundesrepublik Ende der 70er Jahre (Phase der wirtschaftlichen Prosperität) hatte im Rahmen der Bildungsreform die gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen selbstverständlich werden lassen. Auch der Sport konnte und sollte nicht davon ausgenommen werden. Im Grunde waren es jedoch eher organisatorische als pädagogische Gründe, die der Koedukation zur flächendeckenden Durchsetzung verhalfen. Einzelne Schulen wurden zu großen Schulzentren zusammengefasst, in denen es unmöglich war, die geschlechtsheterogenen Klassen nur für den Sportunterricht zu trennen. Da also überzeugende sportpädagogische Konzepte für die Realisierung der Koedukation fehlten, setzte sich eine ähnliche, aber grundsätzlich verschiedene Unterrichtsform durch - "Koinstruktion" genannt. Hier waren zwar Mädchen und Jungen am selben Ort anwesend, doch es gab keine oder zu wenige Impulse miteinander Sport zu treiben oder zu spielen oder sich gar mit geschlechtsbedingten Konflikten auseinanderzusetzen.

Die bisher veröffentlichten gelungenen Unterrichtsversuche zur Koedukation im Sportunterricht wurden nicht als Grundlage alltäglicher Praxis betrachtet. Es handelte sich bei ihnen zumeist um Dokumente einzelner Unterrichtseinheiten im Bereich der Orientierungsstufe, der längste systematisch begleitete Zeitraum war ein Schuljahr (siehe: KUGELMANN 1980). Die langfristige Realisierung der erwünschten sozialen Zielsetzungen, vor allem für Jugendliche in der Pubertät, war nicht nachweisbar Es herrschte Uneinigkeit darüber, ob es besser sei, die Schülerinnen und Schüler mit geschlechtsspezifisch "vorbelasteten" Inhalten wie Fußball und Seilspringen zu konfrontieren oder sie mit eher "neutralen" Sportarten allmählich aneinander zu gewöhnen. Es zeigte sich in der alltäglichen Schulsportroutine auch, dass die erwünschte selbstverständliche heterogene Gruppen- und Mannschaftsbildung einfach nicht stattfand. Vielmehr versuchten die Jungen häufig, ihre Spiele ohne Mädchen abzuwickeln, die Mädchen ihrerseits zogen sich eher vor den dominanten Jungen zurück (vgl. SCHULZ 1997, 42; KUGELMANN 1985).

Solche Schwierigkeiten waren ein willkommener Anlass für die Koedukations-Gegner, das gesamte pädagogische Konzept in Frage zu stellen. Sie fürchteten, dass die hergebrachte Geschlechterordnung und mit ihr der Sport in seiner institutionalisierten, fast durchgängig geschlechtsspezifischen Form verfälscht werden könnten. Einige Fachkollegen befürworten deshalb die Geschlechtertrennung im Sportunterricht mit dem Hinweis auf biologisch bedingte Verhaltensunterschiede zwischen Mädchen und Jungen. Sie warnen dringend vor Gleichmacherei und setzen auf die Differenzierung der Geschlechter (zum Beispiel der Verband katholischer Lehrerinnen (vgl. PFISTER 1985, 194 und SÖLL 1981).

Die pädagogisch-didaktische Reflexion über Koedukation wird von ihren Befürwortern aber gerade wegen der auch von ihnen erkannten Probleme der Integration von Mädchen und Jungen mit neuen Gedanken fortgeführt. KRÖNER / PFISTER veröffentlichen 1985 einen Sammelband "Nachdenken über Koedukation im Sport", in dem die meisten Kolleginnen und Kollegen, die sich schon 10 Jahre früher zum Problemkreis geäußert hatten, ihre neuen Positionen darstellten. BRODTMANN / KUGELMANN geben ein Themenheft "Mädchen und Jungen im Schulsport" heraus (sportpädagogik 1984, Heft 4). ALFERMANN präsentiert 1992 eine neue empirische Untersuchung zur "Koedukation im Sportunterricht". BLUMENTHAL (1993) überlegt, wie Jungen und Mädchen vom Nebeneinander zum Miteinander im Sportunterricht gelangen könnten.

Die Argumentation in dieser Phase ist gekennzeichnet von der Suche nach noch überzeugenderen Begründungen für gemeinsamen Sportunterricht für Mädchen und Jungen, nach den Ursachen der noch unbewältigten Probleme der Koedukation und nach besseren didaktischen Konzepten, um die erzieherischen Absichten realisieren zu können.

Einig ist man sich weitgehend darüber, dass die Konfrontationsmethode Fußball (= männlich) und Gymnastik (= weiblich) - als didaktischer Trick zur Anregung sozialen Lernens gut gemeint - Kinder zumindest im Primarstufenalter überfordert. Einigkeit herrscht auch in der Auffassung, die nicht nur für geschlechtsheterogen durchgeführten Sportunterricht gilt, dass nämlich die eindimensionale Leistungsorientierung des Sports zugunsten kooperativer Formen im Sportunterricht zu überwinden sei, wenn Jungen und Mädchen im gleichberechtigten Miteinander voneinander lernen sollen. Durchgängiger theoretischer Bezugspunkt ist auch in dieser Phase die Rollentheorie des symbolischen Interaktionismus.

BRODTMANN / KUGELMANN (1984) beschreiten mit dem Begriff einer Geschlechtsrollen - "Kultur" einen eigenen Argumentationsweg. Ihnen geht es nicht mehr um das letztlich destruktive "Aufbrechen" von Rollen und Rollenerwartungen. Im Sportunterricht können die Unterschiede zwischen beiden Bewegungskulturen wahrgenommen werden, die jeweils andere Kultur kann kennengelernt und die unterschiedliche Bewertung von weiblicher und männlicher Bewegungskultur dabei deutlich werden. Das Trennende zwischen den Geschlechtern soll schließlich in einem Klima gegenseitiger Anerkennung überwunden werden.

Ein weiterer Aspekt gewinnt an Bedeutung: Die Heranwachsenden sind mit der Aufgabe, das Geschlechterrollenkonzept zu erweitern, überfordert, wenn sie dabei nicht von Lehrkräften unterstützt werden, die eben in dieser Beziehung Vorbild sein können. Wiederholt wird gefordert, dass Lehrende ihre eigene Befangenheit in ihrer Geschlechtsrolle erkennen und überwinden und so Vorbilder für Schülerinnen und Schüler sein sollen. PETERSEN bezeichnet die "Person des Sportlehrers" als eine "zentrale Bezugsgröße" für "die Prozesse der Rollenübernahme und Rollenerweiterung im Sport" (1985, 100). KRÖNER fordert "eine gründliche Auseinandersetzung über veränderte weibliche und männliche Leitbilder" (1985, 38) und schlägt "Androgynität" als neues Leitbild von BRODTMANN I KUGELMANN (1984) sprechen von den potentiellen "pädagogischen Einflussmöglichkeiten" eines "modellhaften Lehrerverhaltens (15).

Positiv aus heutiger Sicht ist zu bewerten, dass durch die damals geführte Diskussion die bis dahin übliche Konzentration der sportwissenschaftlichen Reflexion auf die Belange der Jungen zumindest ansatzweise durchbrochen wurde. Die Focussierung der Aufmerksamkeit auf männliche Zielgruppen war und ist heute noch in der einschlägigen Fachliteratur weit verbreitet (vgl. KUGELMANN 1996). Dies ist zwangsläufig so, solange das Sportsystem insgesamt (als gesellschaftliches Teilsystem) männlich dominiert ist.

Wichtig ist auch die Erweiterung der Perspektive auf die Person der Lehrkraft. Dadurch wird der Blick auf eine bisher vernachlässigte Facette des Sportunterrichts gerichtet. Enttäuschende Unterrichtserfahrungen werden von geschlechtsspezifischen Fixierungen der Lehrerinnen und Lehrer her erklärbar, wenn auch nicht lösbar.

Keiner der Autorinnen und Autoren ist es gelungen, Losungen für das Problem zu entwickeln, das sich aus der Dominanz des Männlichen im Sport ergibt. Sie machten nicht deutlich, dass Schule und Schulsport nur soviel Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen, von Lehrerinnen und Lehrern ermöglichen können, wie es die Gesellschaft erlaubt bzw. wie es absichtsvoll gegen die gesellschaftlichen Zwänge und gegen die herrschende Geschlechterordnung angestrebt wird Weil bis dahin der Weg noch so weit ist, erschien einigen die besondere Unterstützung der Mädcheninteressen im Sportunterricht bzw. sogar die Rückkehr zum getrennten Sportunterricht als zunächst bessere Lösung.

Wenn in den beiden folgenden Abschnitten die Argumente der Mädchen- und Jungenparteilichkeit beschrieben und analysiert werden, dann verweist dies zwar einerseits auf den Stand der Diskussion über den geschlechtergetrennten Sportunterricht. Auf der anderen Seite jedoch - und das ist eine durchaus interessante Wendung der Debatte, ergeben sich gerade aus der Kombination dieser beiden Positionen neue Perspektiven für die Entwicklung eines Konzepts der Koedukation im Sinne von "Sich-Bewegen und Sport für Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichten".

5.3 Mädchenparteilichkeit

Ihrer Enttäuschung über verpasste Chancen der Koedukation gibt KRÖNER 1993 Ausdruck mit den Worten: "Mit der Forderung nach Koedukation im Sport seit Beginn der 70er Jahre, war eine Hoffnung auf mehr Gleichheit und Integration für Mädchen in Schule und Sport verbunden, Diese Hoffnung hat sich im großen und ganzen nicht erfüllt. Im Gegenteil: Mit Beginn der systematischen Erfassung mädchendiskriminierender Strukturen in Schule und im gemeinsamen Sportunterricht wuchs / wächst die Erkenntnis, dass die Koedukationspraxis für Mädchen und jungen Frauen keine Besserung ihrer benachteiligten Situation gebracht hat, diese eher noch beim gemeinsamen Unterricht, bei Freizeit- und Sportaktivitäten verstärkt wird" (12) Die Ohnmacht der Lehrkräfte angesichts alltäglicher Diskriminierung von Mädchen im Schulsport, angesichts der alltäglichen Anmache und körperlicher Übergriffe durch Jungen im koedukatjven Sportunterricht, angesichts der alltäglichen Selbstverachtung und Rückzugsstrategien von Mädchen und Frauen im Sport, war der Anlaß, verstärkt über Konzepte nachzudenken, die es Lehrerinnen erleichtern, ihre Schülerinnen bei der Entwicklung von mehr Selbstbewusstsein zu unterstützen. Die Forderung nach "Mädchenparteilichkeit" bzw. "Frauenparteilichkeit" ist das Ergebnis dieser Überlegungen (vgl. dazu z. B. PALZKILL 1990; KUGELMANN / KNETSCH / PASTUZCYK 1990; KUGELMANN 1991; SCHEFFEL 1991 und 1996; THIEN 1991;THIES 1991; KRÖNER 1993; PFISTER 1991).

Es ist kein Zufall, dass diese Impulse von der Frauenforschung in der Sportwissenschaft ausgingen. Diese Wissenschaftlerinnen haben als Sportlerinnen nicht nur selbst Benachteiligungen erfahren, weil sie Frauen sind, sie haben auch gespürt, dass befriedigende Körper-, Bewegungs- und Sporterfahrungen eine Chance für ihr Selbstbewusstsein bedeuten.

Aus dieser Betroffenheit heraus haben sie begonnen, über körper- und bewegungsbezogene Ursachen der Diskriminierung ihres Geschlechts zu forschen. Sie kommen zu der Überzeugung, dass Frauen lernen müssen, sich selbst zu helfen.

Sie fordern Parteilichkeit für Mädchen, "die bewusste Hinwendung zu Mädchen" (SCHEFFEL 1991, 41) und " die aktive Unterstützung der Mädchen bei ihren Körper-, Bewegungs- und Sportproblemen" (KUGELMANN 1991a, 24). Vor allem die Rolle der Mädchen als "soziale Puffer" in lebhaften Jungenklassen wird kritisiert, aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der viele Jungen ihre Interessen auf Kosten der Mädchen vertreten. Diese Parteilichkeit soll den koedukativen Sportunterricht verändern, aber auch Bewegungsangebote mit eigenen Räumen und eigenen Themen für Mädchen und Frauen rechtfertigen.

Mädchen- und Frauenarbeit im Sport führt zu neuen Themen:

  • "Frauen-Räume. Körper und Identität im Sport." (KRÖNER / PFISTER 1992) Hier geht es darum, dass Mädchen und Frauen lernen, für sich Raum zu beanspruchen. Die selbst und von andern bestimmten Grenzen sollen erweitert werden.
  • "Bei den eigenen Stärken bleiben... Im Kontakt mit anderen" (KRÖNER 1993, 153 ff.): Mädchen / Frauen vermeiden häufig sportliche Situationen, wo es eng zugeht, wo unmittelbarer Körperkontakt unumgänglich ist. Bei diesem Thema können sie die eigenen Körperkräfte in der kämpferischen Auseinandersetzung mit anderen erfahren.
  • "Leiten und leiten lassen. Mädchen zwischen Anpassung und Aus-der-Reihetanzen" (KRÖNER 1993, 148ff.): Über Sich-Bewegen können mädchentypische Verhaltensweisen bewusst gemacht und verändert werden.
  • "Springen, Fliegen, Raufen, Boxen - Spielerische Bewegungskünste" (KRÖNER 1993, 116 ff.): Diese Angebote sollen den Mädchen Erfahrungen ermöglichen, "die nicht unbedingt zum gewöhnlichen Bewegungsalltag eines jeden Mädchens gehören". (119)
  • "Frauen spielen Fußball" (vgl. dazu auch KUGELMANN 1991 b, 1992; KÖHLE 1996.): Auch bei diesem Thema geht es darum, die Beschränkungen der Mädchensozialisation zu überschreiten, neue Fähigkeiten und Stärken zu entdecken, einen mädchengemäßen Zugang zum Spielen mit dem Ball zu finden.
Solche und ähnliche Themen sind die Antwort auf genau die Defizite weiblicher Sozialisation, die es den Frauen schwer machen, selbst etwas für die Durchsetzung ihrer Interessen zu tun.

Das Konzept der "Mädchenparteilichkeit" wirkt selbstverständlich provokativ. Das soll es auch tun, wendet sich doch seine Vertreterinnen mit Recht gegen die lange Tradition androzentrischer, d.h. an den Interessen von Jungen und Männern einseitig orientierten Theorie und Praxis des Sportunterrichts (vgl. dazu PFISTER 1991; ROSE 1994 und KUGELMANN 1995). Es ist von daher nicht verwunderlich, dass sich mancher davon angegriffen fühlt, fürchtet, nun seinerseits benachteiligt zu werden. Ich sehe keine Gefahr in dieser Richtung, zumindest solange Fürsorglichkeit bei der weiblichen Sozialisation einen so hohen Stellenwert hat. SCHEFFEL (1991) ist sicher nicht die einzige Lehrerin, die sich geradezu zwingen muss, den Jungen manchmal weniger Aufmerksamkeit zu geben als gewohnt und als diese wie selbstverständlich fordern.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der feministische Beitrag zur Koedukationsdebatte das Machtgefälle der Geschlechter im Sportsystem deutlich gemacht hat. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die negativen Auswirkungen männlich dominierter Strukturen auf Körper-, Bewegungs- und Sporterfahrungen von Frauen. Zudem wird die Trennung von Sport (-unterricht) und Alltag abgelehnt zugunsten der Entwicklung lebensweltbezogener Bewegungsthemen. "Mädchenparteilichkeit" ist die Folge einer von verkrusteten Machtstrukturen eingeengten Schulsportpraxis.

Die Begrenzungen dieser Position werden sichtbar, wenn wir davon ausgehen, dass die Geschlechtertrennung im Sportunterricht - als Schutzmaßnahme für Mädchen und Frauen gedacht - gerade sie wieder in die Defizitsituation versetzen kann, aus der sie ja herausfinden wollen. Nicht alle Mädchen finden den Sportunterricht in eigenen Gruppen als stärkend, viele Jungen betrachten die Mädchenkurse verachtungsvoll. Die Gründe dafür sind verständlich, wer sich ausgeschlossen fühlt, reagiert leicht mit Aggression und Herabsetzung. Doch dies ändert nichts daran, dass Gleichberechtigung letztlich nur in der aktiven Auseinandersetzung mit dem anderen Geschlecht erkämpft und erreicht werden kann. Schutzräume sind nur Übergangslösungen. Mädchenparteilichkeit also ein zwar wichtiger Schritt zur Gleichberechtigung, vermutlich sogar die Voraussetzung dafür. Sie müßte jedoch in einem gelungenen koedukativen Sportunterricht überflüssig werden.

5.4 Jungenarbeit

Der Tenor der anfänglichen Diskussionen über die Koedukation bestand in der Befürchtung, Jungen könnten wegen des geschlechtsbedingten Leistungsgefälles unterfordert sein. Später sah man eher die Nachteile für die in die Ecke gedrängten Mädchen. Für ihre Interessen traten vor allem die Frauen ein, die Lehrerinnen und Sportwissenschaftlerinnen. Doch auch eine zunehmende Anzahl von Fach-Männern setzte sich dafür ein, die Mädchen gegenüber den dominanten Jungen zu unterstützen.

"Jungen schienen diejenigen zu sein, die über Bewegung, Sport und Spiel am meisten in ihrer Persönlichkeitsentwicklung profitieren, die ihr Selbstwertgefühl besonders aus ihrer Überlegenheit Mädchen gegenüber beziehen" (SCHMERBITZ / SEIDENSTICKER 1997, 26).

Zaghaft zwar, doch immer deutlicher entdeckt man in neuerer Zeit, dass auch Jungen "Probleme mit sich und anderen haben ..." Es genügt also nicht, "dass sie im koedukativen Sportunterricht lediglich dazu angehalten werden ... , Mädchen größere Teilnahmechancen einzuräumen" (26).

Die Autoren des sportpädagogik-Schwerpunkthefts "Jungen" zeigen in mehreren Beispielen, dass auch Jungen ,1durch Sport in ihren Entfaltungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt werden können." (26) Ihr Fazit besteht in der klaren Erkenntnis, "dass die psychosozialen Schwierigkeiten der Jungen primär damit zu tun haben, dass sie Jungen sind." Die Anforderungen der männlichen Sozialisation - stark, mutig, hart und der Beste sein zu müssen - erzeugen auf viele Heranwachsende einen ungeheuren Druck, der mit dem Begriff "Überlegenheitsimperativ" (Bildungskommission Nordrhein-Westfalen 1995, 128) zutreffend bezeichnet wird.

Männliches Verhalten im Sportunterricht - aggressives Zweikampfverhalten im Sportspiel, unbedingter Wille zum Erfolg vor allem gegenüber den Mädchen, Zusammenbeißen der Zähne trotz Schmerzen - wird durch die Forderungen dieses "Männlichkeitszwangs" erklärbar. Was geschieht, wenn Jungen immer wieder versuchen, diesen Zwängen gerecht zu werden, beschreiben SCHNACK / NEUTZLING (1990, 37): Der Mythos der männlichen Überlegenheit führt dazu, dass Jungen alle Erfahrungen verdrängen und umwerten müssen, die sie an ihrer grundsätzlichen Überlegenheit zweifeln lassen. Wenn ein Sieg ein Kriterium für Männlichkeit ist, dann zeigt eine persönliche Niederlage die eigene Unmännlichkeit."

Die Ziele der Jungenarbeit bestehen darin,

  • das Selbstwertgefühl zu stärken, um dem Druck der Peer-group und der gesellschaftlich vermittelten Männlichkeitsbilder besser widerstehen zu lernen,
  • Sensibilität und Nachdenklichkeit zu fördern, um eigene Gefühle und die der anderen besser wahrnehmen zu können,
  • ein verändertes Verständnis vom eigenen Körper zu entwickeln, um auch die zarten und sensiblen Seiten des Ich kennenzulernen und die Folgen von Gewalt und Aggression besser abschätzen zu können,
  • ein verändertes Verständnis von Sport und Bewegung erwerben, um die Dominanz des Wettkampfmotivs zu überwinden,
  • Freundschaften und Gemeinschaftsgefühl zu erfahren, um verlässliche Beziehungen ohne Überlegenheits- und Machtansprüche entwickeln zu können
  • Kommunikation- und Konfliktfähigkeit zu erlernen und die Ursachen von Aggression und Gewalt erkennen und reflektieren lernen.
Ebenso wie im Zusammenhang mit Mädchenparteilichkeit stellt sich angesichts dieser Perspektiven der Jungenarbeit die Frage, ob sie besser im koedukativen oder im von Mädchen getrennten Unterricht zu verwirklichen sind. SCHULZ (1997) geht der Frage nach, ob nach Geschlechtern getrennter Sport für Jungen eine Chance bedeutet. Ihr Unterrichtsversuch an der Laborschule in Bielefeld ergibt keine eindeutige Bevorzugung der einen oder anderen Unterrichtsform. Phasenweise ist ein positiver Effekt von geschlechtergetrenntem Sportunterricht ihrer Meinung nach möglich, doch ein generelles Plädoyer dafür will sie nicht abgeben. Die "geschlechterbewusste" Auseinandersetzung mit Jungen ist jedoch in jedem Fall eine unabdingbare Voraussetzung für gelungenen Sportunterricht (vgl. SCHULZ 1997, 45).

Neue, im Jungen-Sportunterricht bisher ungewöhnliche Themen konnten aus den Zielsetzungen der Jungenarbeit gewonnen werden, z.B.

  • "Wie ein Außenseiter zur Gruppe und die Gruppe zu ihm findet" (,RENNER 1997)
  • "Jungen-Ängste. Vom Stark-sein-Wollen und Nicht-schwach-sein-Können" (STOFFERS 1997)
  • "Kampfspiele - friedlich und fair" (ABEL / RAITHEL 1997)
Wie im koedukativen und im mädchenparteilichen Sportunterricht, ist auch in jungenorientierten Bewegungsangeboten der Sportlehrer, seine Persönlichkeit, seine Berufsauffassung und sein Verständnis von Männlichkeit von besonderer Bedeutung. Gerade in einer Gesellschaft, wo die Väter berufsbedingt für ihre Söhne oft nicht ausreichend präsent sein können (oder wollen, vgl. BENARD / SCHAFFER 1991), ist das Vorbild des Sportlehrers oft eine wichtige Orientierungsmöglichkeit für Jungen. Deshalb fordern SEIDENSTICKER und SCHMERBITZ, dass Sportlehrer die Notwendigkeit von Jungenarbeit in der Erziehung erkennen und sich mit ihrer eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen, um die Sorgen und Nöte von Jungen besser zu verstehen. Auch KÖPPE / KUHLMANN (1997) fordern Perspektivenübernahme und Offenheit von Lehrern, die "als Vorbild im Sport unterrichten" sollen. Auch Sportlehrerinnen können im Umgang mit Jungen aus einem reflektierten Erziehungsprozess im Interesse der Jungen lernen und profitieren (vgl. dazu PALZKILL / SCHEFFEL 1997,18 ff.).

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6. Koedukation ja - aber wie?

Trotz aller kritischen und ablehnenden Argumente überwiegen doch letztlich die Gründe für den gemeinsamen Sportunterricht. Zwar ist Sport zunächst ein Ort, wo die geltende Geschlechterordnung in Spiel, Sport und Bewegung besonders effektiv durchgesetzt wird, weil sie spürbar und sichtbar in den Erfahrungsfeldern Leiblichkeit und Sich-Bewegen weitervermittelt wird. Doch Sportunterricht kann, wenn er pädagogisch und geschlechtersensibel inszeniert wird, zum Ort für die konstruktive Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen werden.

6.1 Statt Koedukation - "Mädchen und Jungen gemeinsam unterrichten"

Dies ist jedoch nur unter bestimmten Bedingungen möglich. So muss zum Beispiel gewährleistet sein, dass die am gemeinsamen Sportunterricht beteiligten Lehrenden und Lernenden die Konflikte und ihre Ursachen begreifen und den Willen haben, sich auf ihre Lösung einzulassen. Die Bildungskommission in NRW (1995) spricht deshalb vom Prinzip der "reflexiven Koedukation" und bezeichnet in diesem Zusammenhang "die bedürfnisorientierte, situationsangepasste, flexible Handhabung des gemeinsamen Unterrichts von Mädchen und Jungen." Allerdings haben die Befürworter der Koedukation immer schon das Moment der Reflexivität für unabdingbar gehalten. Die Forderung allein hilft demnach nicht unbedingt weiter, wenn im Alltag die bekannten Probleme auftauchen.

Eine weiterreichende Lösung könnte darin bestehen, ähnlich zu verfahren wie bei der Lösung des eingangs genannten Leistungs- und Motivationsproblems. Indem man - statt allgemein und verdinglicht von "Leistung" und von "Motivation" zu reden - pädagogisch orientiert von "Leisten" und von den "persönlichen Motiven" sprach, war es möglich, die individuelle Situation des einzelnen lernenden Menschen differenzierter zu erfassen und ihm so besser gerecht zu werden.

In bezug auf Jungen und Mädchen bedeutet das, statt von "Koedukation" vom "gemeinsam unterrichten" oder vom "gemeinsam lehren und lernen" zu sprechen. Das bildungspolitisch brauchbare, griffige Ding-Wort wird zum pädagogisch relevanten "Tun"-Wort: Es drückt aus, dass etwas zu tun ist, dass die Beteiligten Lehrenden und Lernenden selbst handeln müssen, um befriedigende Lösungen für geschlechterbezogene Unterrichtsprobleme zu finden.

Unterrichten ist ein fortwährender Verständigungsprozess zwischen Lehrenden und Lernenden (vgl. FUNKE 1993) - Mädchen und Jungen und Lehrkräfte sind also gemeinsam dafür verantwortlich, dass ihr Spielen, Bewegen, Sporttreiben gelingt. Im Sportunterricht geht es zunächst darum, zwischen dem "Kind" und der "Sache" des Bewegens zu vermitteln (FUNKE-WIENECKE 1995). Wenn die Sache, die Bewegungs-, Sport und Spielhandlung, gemeinsam von zwei oder mehreren Kindern gelernt und ausgeübt werden soll, dann muss auch zwischen Kind und Kind vermittelt werden. Da aber jedes Kind bzw. jeder Jugendliche anders ist, ist der Lernprozess entsprechend den jeweiligen Vorerfahrungen und Möglichkeiten individuell zu gestalten. So, wie jeder Mensch beim Schwimmen- oder Skifahrenlernen die Bewegungssituationen persönlich-subjektiv deutet und deshalb seinen eigenen, individuellen Lernprozess durchlaufen muss, so ist auch in sozialen Lernprozessen der persönliche Weg unabdingbar.

Aus sportpädagogischer Perspektive ist das gemeinsame Unterrichten von Mädchen und Jungen im Sport wünschenswert, wenn die Bedingung der Verständigung über gemeinsames Handeln (-Lernen) in Spiel, Sport und Bewegung erfüllt ist. Wenn dies nicht gelingt, dann kann ein Unterricht im Sinne der "reflexiven Koedukation' nicht stattfinden. Da die Schwierigkeiten in bestimmten Gruppen, in gewissen sozialen Umfeldern und wegen mangelnder Einsicht in die Problematik kurzfristig oft unüberwindlich sind, wäre dort ein nach Geschlecht getrennter Sportunterricht unter Umständen besser;

Mit anderen Worten: All die Ziele, und Forderungen, die unter dem Aspekt der Jungenarbeit und aus mädchenparteilicher Sicht formuliert wurden, sind selbstverständlich für das gemeinsame Lernen genauso relevant. Allerdings muss man sich hüten, zu erwarten, dass es bestimmte Rezepte zu ihrer Realisierung geben könnte. Nicht alle Klassen sind gleich, nicht alle Mädchen und Jungen sind gleich, nicht alle Bewegungsanlässe sind gleich problematisch - oft wird die Geschlechterfrage im Sportunterricht gar nicht aktuell sein und braucht deshalb auch nicht zum Thema werden. Sich-Bewegen und Spielen kann nebeneinander und miteinander stattfinden, ohne konfliktträchtige Ereignisse; diese können oft schon im Vorfeld durch rechtzeitiges Handeln an Schlüsselstellen des Unterrichtsgeschehens vermieden oder entschärft werden. Doch wenn die Situtation eintritt, wenn geschlechtsrelevante Erfahrungen aktuell, wenn jemand wegen seines Geschlechts benachteiligt ist oder auch nur Gefahr läuft, es zu sein, dann muss das beachtet und thematisiert werden. Wo die Bedingungen nicht stimmen, wo Verständigung über gemeinsame Ziele nicht hergestellt werden kann, wo die schulischen und / oder außerschulischen Gegebenheiten permanent für Konfliktstoff sorgen, sollte ganz oder zeitweise nach Geschlechtern getrennt unterrichtet werden. Die Antwort auf die Frage "Koedukation ja oder nein" lautet also grundsätzlich; Ja - jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen, die es langfristig erlauben, Mädchen und Jungen gemeinsam zu unterrichten.

6.2 Gemeinsam unterrichten - Kommentar zum Fall 1: Fußballspielen

Das Nachdenken über die anfangs berichteten Unterrichtsszenen kann die Richtung weisen, worin "rechtzeitiges Handeln im Vorfeld" oder die Behandlung eines geschlechtsthematischen Anliegens bestehen kann. Überlegungen zum "Fall 1: Fussballspielen" zeigen, welche Gedanken dabei relevant sein könnten:

Die Botschaft dieser Stunde im Sinne des "geheimen" Lehrplans (vgl. MARAUN 1978) besteht darin, den Mädchen vor Augen zu führen, welche Flaschen sie - im Vergleich zu Jungen - im Sport sind. Den Mitschülern wird ein Überlegenheitsgefühl geradezu aufgedrängt: Beim Aufwärmen soll der Ball mit dem Fuß im Slalomlauf geführt werden. Warum wird dies überhaupt demonstriert? Warum muss dies ausgerechnet ein Junge tun? Die Aufstellung der Gruppe gibt doch den Laufweg ohnehin vor und zum richtigen Technik-Üben ist die Bewegungssituation zu komplex - es geht um spielerische Ballgewöhnung. Und was soll individuelles Balldribbling durch Stangen, wenn die Absicht des Lehrers ein gemeinsames Spiel in gemischten Gruppen ist? Diese Übung eignet sich kaum dazu, kooperative Spielhandlungen vorzubereiten.

Ein Kind zu loben, ein anderes zu korrigieren mag ja vielleicht motivierend, zumindest üblich zu sein. Aber worin besteht der methodisch-didaktische Gewinn für Lehrer und Kinder, abschließend die Mädchen pauschal abzuwerten gegenüber allen Jungen, die "das schon gut beherrschen". Man beachte die Stärke des Lobs in Anbetracht der Situation: Ob wirklich alle 10 Buben dieser 6. Klasse das Slalomdribbhng beherrschen?

Und damit nicht genug: Im folgenden Tigerballspiel wird nach Geschlecht und gleichzeitig pauschal nach Können differenziert: Die Jungen erhalten eine Aufgabe, die für Mädchen angeblich zu schwierig ist - und das wird auch noch besonders betont. Wen wunderts, wenn diese die Lust verlässt?

Schließlich bildet die Art der Mannschaftsbildung einen vorläufigen Höhepunkt:

Die Mädchen nach Können auf die beiden Gruppen zu verteilen lohnt scheinbar nicht. Wenigstens müssen sie das meist beschämende Wahlverfahren nicht über sich ergehen lassen, könnte man denken. Doch fällt hier die Entscheidung schwer, was herabsetzender ist - warten auf die Erlösung oder wie Stückgut verteilt werden. So etwas nennt man "den Teufel mit dem Beelzebub austreiben".

Aus der Sicht der Mädchenparteilichkeit fällt der diskriminierende Grundzug der Sportstunde auf, die Mädchen erscheinen als Opfer, weil ihnen als Gruppe keine Gelegenheit gegeben wird, sich zu wehren. Ihre Distanzierung von der Situation besteht im Rückzug. Die Spielerfahrenen unter ihnen finden keine Anerkennung für ihr Können. Die weniger Geübten fühlen sich nicht ermutigt, haben gar keine Chance, als Mitspielerinnen akzeptiert zu werden.

Aus der Sicht der Jungenarbeit ist bedenklich, dass die Schüler als Gruppe geradezu in eine dominante Rolle gedrängt werden. Erzeugt dies nicht auf Dauer - gerade bei denen, die sich so stark fühlen - einen ungeheuren Druck, die Erwartungen des Lehrers nicht zu enttäuschen und führt womöglich dazu, Erfolg im Spiel mit allen Mitteln zu erzwingen? Was geschieht bei den Schwächeren unter ihnen? Fühlen sie sich nicht manchmal überfordert? Und diejenigen, die sich mit dem einen oder anderen Mädchen in der Pause, im Fachunterricht, auf dem Schulweg, gut verstehen

- wird ihnen nicht die Gelegenheit, einfach aus Freude am Geschehen miteinander zu spielen, verdorben? Bei der Mannschaftswahl bleiben die Schwächsten von ihnen bis zuletzt übrig - vor aller Augen. Ein Anlass, die Peinlichkeit bei nächster Gelegenheit mit einer aggressiven Tat, einem unfairen Foul, einer gemeinen Bemerkung zu kompensieren?

Nun könnte man das Ganze mit der Bemerkung abtun, das alles sei ja ohnehin schlechter und damit zwangsläufig auch schlechter koedukativer Sportunterricht. Damit wird man der Situation aber nicht ganz gerecht. Die Unterrichtsszene zeigt

in ihrer groben Machart nur besonders deutlich, worin die alltäglichen Defizite bestehen, wenn das gemeinsame Lernen, Bewegen und Spielen nicht geschlechtssensibel gestaltet wird. In anderen Situationen passiert Vergleichbares nur subtiler und verdeckten Die Wirkung bleibt die gleiche.

Gemeinsames Unterrichten des Fußballspielens für Mädchen und Jungen darf nicht pauschale Etikettierungen verursachen, sondern muss die einzelnen Schülerinnen und Schüler in ihrer besonderen Lemsituation erkennen und unterstützen. Wenn sich die Beteiligten auf das Thema "Miteinander-Spielen" verständigt haben, dann muss es darum gehen, durch geeignete Rahmenbedingungen, Regelungen und Aufgabenstellungen die Teamarbeit zu inszenieren. Das sportliche Können der einzelnen ist nur insofern relevant, als es die Gemeinsamkeit stärken oder stören kann. Was dies im einzelnen bedeutet, kann nur jeweils in der konkreten Situation entschieden Werden.

Wie könnte die Sportstunde im Sinne des "gemeinsam Unterrichtens" besser gestaltet werden? Ohne die genauen Umstände der kritisierten Unterrichtssituation zu kennen, können an dieser Stelle nur einige Anregungen dafür gegeben werden. Nicht immer und in jeder Situation ist die Präsenz von Mädchen und Jungen gleich problematisch und bedarf besonderer Thematisierung. Zunächst geht es also erst einmal um das gemeinsame Spielen. Nur wenn es einen Anlass gibt, das Mädchen-Jungen-Verhältnis zu beachten, z.B. weil verbale oder handfeste Aggressionen auftreten oder weil ein Kind aufgrund seines Geschlechts benachteiligt ist, muss dies zum Thema werden. Störungen haben Vorrang.

Zur Inhalts- und Themenwahl: Für diese Klasse, in der anscheinend bisher noch wenig Gemeinsames zustande gekommen ist und zu der einige Vereinsspieler gehören, halte ich das Fußballspiel mit seinem geschlechtsspezifischen und mediengefärbten Hintergrund weniger geeignet. Miteinander-Spielen als Thema der Stunde könnte leichter gelingen mit einer eher unbekannten Spielidee, z.B. Hockey oder Tschouk-Ball. Ein Mädchen-Jungen-Problem könnte auftreten bei der Auswahl des Spiels. Hier ist darauf zu achten, dass beim Verständigungsprozess darüber auch Minderheiten zu Wort kommen und gehört werden.

Zur Mannschaftseinteilung und -größe: Das Wählen führt zwar meist zu etwa gleichstarken Gruppen, ist jedoch pädagogisch problematisch. Wenn in relativ großen Mannschaften gespielt werden soll, kann die Lehrkraft selbst einteilen oder ein Zufallsprinzip anwenden, wenn Eile geboten ist. Kleine Gruppen können das oft schon allein, ohne den Wahivorgang. Sie eignen sich ohnehin besser, um miteinander zu Spielen. Soll das Mädchen-Jungen-Verhältnis bei der Mannschaftsbildung problematisiert werden, dann muss dies vermutlich in einer Reflexions- und Gesprächsphase besprochen werden.

Zum Lehr-Lernweg: Wenn das Thema "Miteinander-Spielen" heißt, dann ist es sinnvoll, alle Teile der Unterrichtsstunde auf dieses Thema hin zu beziehen. Die zum Gelingen beitragenden handlungsleitenden Qualifikationen sind dabei doch eher solche wie Kooperationsfähigkeit, Empathie, Spielüberblick und Spielverständnis als technische Brillianz oder Durchsetzungsvermögen. Deshalb wäre ein kooperatives Spiel in der Aufwärmphase sinnvollen Mädchen und Jungen könnten gegebenenfalls durch ihre geschlechtstypische Sozialisation besondere Betreuung brauchen: "männlicher" Durchsetzungswille oder "weibliche" Zaghaftigkeit könnten besprochen, Regeln für ihre Überwindung gemeinsam gesucht und gefunden werden.

Zum Verhalten des Lehrers: Er müsste sich zunächst bewusst werden, was es bedeutet, mit Mädchen und Jungen im Sportunterricht zu tun zu haben. Er müsste sich fragen, welcher männliche "Überlegenheitsimperativ" ihn aus welchem Grund dazu zwingt, in einer Art mit Mädchen und Jungen im Sport umzugehen, die jede Gemeinsamkeit abwürgt. Was bedeutet für ihn das Fußballspiel? Warum hat er ausgerechnet dieses zum Inhalt der Stunde gewählt? Welche Erfahrungen hat er selbst mit Erfolgen und Misserfolgen in diesem Spiel? Was hat er sich dabei gedacht, gemischte Mannschaften zu bilden? Was sollte er sich dabei denken? Die Aufgabe der Lehrkraft besteht - neben der Leitung der Unterrichtsstunde und der Betreuung und Beratung der Lernenden - darin, zu beachten, wann Regeln des fairen Miteinanders übertreten werden und wenn nötig, d.h., wenn die Kinder mit der Problemlösung überfordert sind, selbst Grenzen zu setzen. Schwierig dabei ist sicher abzuwägen, wann ein Eingreifen vorschnell oder richtig ist. Wer seine Schülerinnen und Schüler gut kennt, wird das rechte Vertrauen in deren selbstverantwortliche Handlungsfähigkeit mit der Zeit entwickeln.

Das andere Beispiel misslungener Koedukation "Wir spielen Ball über die Schnur" und zahlreiche ähnliche können genauso analysiert werden wie es für das erste hier ausgeführt ist. Leitende Fragestellungen können dabei sein:

  • Welches Sportverständnis herrscht vor?
  • Wird das Thema der Stunde geschlechtssensibel gestaltet oder nicht? Durch welche Entscheidungen? An welchen Stellen?
  • Was lernen die Jungen für sich als Jungen? Was in bezug auf die Mädchen als weibliche Mitmenschen? Gibt es Unterschiede zwischen den Jungen?
  • Was lernen die Mädchen für sich als Mädchen? Was in bezug auf die Jungen als männliche Mitmenschen? Gibt es Unterschiede zwischen den Mädchen?
  • Welche Rolle spielt die Lehrkraft dabei? Was kennzeichnet ihre Geschlechtsidentität? Welche Möglichkeiten der pädagogischen Intervention versäumt sie, welche könnte sie anwenden?
  • Welche Unterrichtssituationen gibt es in einer solchen Stunde möglicherweise, um individuelle Lernprozesse bei den Schülerinnen und Schülern anzuregen?
Diese und ähnliche Fragen können zur Analyse jeder gemeinsamen Sportunterrichtsstunde gestellt werden, um den Grad ihrer "Geschiechtersensibilität" zu prüfen.

Da die Rahmenbedingungen des Sportunterrichts oft nicht zu verändern sind, liegt das Gelingen des gemeinsamen Unterrichts der Mädchen und Jungen im Sport zu einem großen Teil in der Kompetenz der Lehrkräfte. Sie müssen erkennen, inwieweit sie selbst durch stereotypes Geschlechtsrollenverhalten und Vorurteile an der Aufrechterhaltung der Geschlechterverhältnisse mitbeteiligt sind. Sie müssen lernen, sich selbst als Person, als Frau oder Mann wahrzunehmen, reflexive Distanz zu sich herzustellen und sich gegebenenfalls zu verändern. Das erfordert Mut, aber auch die Möglichkeit einer praxisnahen und persönlichkeitsbildenden Aus- und Fortbildung.

Mädchen und Jungen im Feld der Leiblichkeit und des Sich-Bewegens gemeinsam zu unterrichten ist also nur dort realisierbar, wo Schule mehr ist als nur Anstalt zur wissensvermittiung und Institution zur Verteilung von Lebenschancen - nämlich eine Lernwerkstatt für alle.

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Letzte Aktualisierung vom 01. Februar 1999